Johann Joachim Winckelmann
Johann Joachim Winckelmann gilt als der Begründer der Klassischen Archäologie und modernen Kunstwissenschaft. Er wurde am 9. Dezember 1717 als einziges Kind des Schuhmachers Martin Winckelmann und seiner Ehefrau Anna Maria, geborene Meyer in Stendal in der Altmark geboren. In der wenige Meter vom Geburtshaus entfernt liegenden Petrikirche ist er am 12. Dezember 1717 getauft worden.
Die Familie Winckelmann lebte in dem kleinen, von der Mutter mit in die Ehe gebrachten strohgedeckten Fachwerkhaus in der Lehmstraße 263 notgedrungen auf engstem Raum. Das einzige Vorderzimmer diente sowohl als Wohnraum mit Familientisch und Sitzecke wie auch als Werkstatt und Verkaufsraum mit Schustertisch, Werkzeug-, Schuhregal und Schemel. Die Schlafstelle der Eltern wird sich im gleichen Raum in einem Alkoven befunden haben; für den Sohn stand wahrscheinlich eine kleine Kammer zur Verfügung. Seine Kindheit verlebte Winckelmann in ärmlichen Verhältnissen. Doch die Ausbildung ihres begabten Sohnes lag den Eltern am Herzen. Nach der Grundschule, die Winckelmann im Alter von fünf Jahren besuchte, wurde er vermutlich schon mit neun Jahren in die städtische Lateinschule aufgenommen. Für den Sohn eines Handwerkers war dies eher ungewöhnlich.
Um einen Beitrag zu seinen Unterhalt leisten zu können, ließ sich Winckelmann in den Kreis der Kurrendeschüler aufnehmen. Die Kurrende, ein liturgischer Chor mittelloser Schüler, ermöglichte es diesen, sich Schulbücher und freien Unterricht zu verdienen. Förderung erfuhr der junge Winckelmann vor allem durch den Rektor der Schule Esaias Wilhelm Tappert (1666–1738). Dieser hatte ihn 1732 zu seinem „Hilfsassistenten“ ernannt. Nahezu erblindet benötigte Tappert zunehmend Unterstützung. Winckelmann, der ein Jahr darauf mit der Aufsicht über die Schulbibliothek betraut wurde, diente ihm vor allem als Vorleser. Doch den kleinen Bücherschatz wußte Winckelmann auch für sich zu nutzen.
Auf Empfehlung von Rektor Tappert ließ sich Winckelmann am 18. März 1735, vor allem um seine Kenntnisse der griechischen Sprache und Literatur zu erweitern, in die Schulmatrikel des Cöllnischen Gymnasiums zu Berlin einschreiben. Er fand Aufnahme im Hause des dortigen Rektors Friederich Bake (1686–1742), einem guten Bekannten seines Stendaler Lehrers, der ihm die Aufsicht über seine Kinder übertrug. Auf dem Lehrprogramm standen die Theorie der Staatsverfassung, Gelehrtenbiographien und Realien (Naturwissenschaften und Sachkenntnisse). Zweifelsohne war für Winckelmann aber der Griechisch-unterricht des Konrektors und späteren Rektors Christian Tobias Damm (1694–1777) von besonderem Interesse. Winckelmanns Vorliebe für den griechischen Dichter Homer hat gewiß in Damms Unterricht ihre Wurzeln. Als Winckelmann im Herbst 1736 das Gymnasium verließ und nach Stendal zurückkehrte, vermerkte Rektor Bake in der Schulmatrikel hinter seinem Namen als Einschätzung: „homo vagus et inconstans“ [ein rastloser und unsteter Mensch]. So hielt es Winckelmann auch nicht lange in seiner Heimatstadt. Bereits am 15. November 1736 schrieb er sich, um sein Griechisch zu vervollkommnen, im Salzwedeler Gymnasium ein, wo er zugleich die Tätigkeit eines Hilfslehrers übernahm.
Im Frühjahr 1742 trat Winckelmann in die Dienste des Oberamtmannes des Magdeburgischen Domkapitels zu Hadmersleben H. Christian Lamprecht (gest. 1773), um dessen ältesten Sohn Friedrich Wilhelm Peter (gest. 1797) auf die Universität vorzubereiten. Der junge Lamprecht, dem sich Winckelmann, der eine tiefe Zuneigung für den Jüngling empfand, als Freund verbunden fühlte, folgte ihm auch, als er im Frühjahr 1743 die Stelle des Konrektors der Lateinschule in Seehausen antrat. An der Seehausener Lateinschule mit ihren etwa 70 Schülern unterrichteten damals vier Pädagogen: der Rektor Johann Gottfried Paalzow, der Konrektor Winckelmann, ein Kantor und der sogenannte Quartus [der 4. Lehrer]. Winckelmann gab Griechisch, Latein, Hebräisch, Geschichte, Geographie und Logik.
Winckelmann bedrückten die rückständigen Verhältnisse und das provinzielle Klima in dem kleinen preußischen Landstädtchen, in dem es so gar keine geistigen Anregungen gab. Zudem brachte ihm sein Beruf nicht die erhoffte Erfüllung. Mit besonderem Engagement hatte sich Winckelmann dem Griechischunterricht gewidmet, doch die Ansprüche, die er dabei an seine Schüler stellte, waren zu hoch und die Probleme vorgezeichnet. Verstanden auch die Eltern nicht recht, warum ihre Söhne mit Griechisch so sehr geplagt werden sollten, zumal die meisten es für ihren späteren Beruf nicht brauchten. In jenen Jahren studierte Winckelmann sehr intensiv zahlreiche ihm zugängliche Werke der griechischen Literatur. Seine Vorliebe galt wie schon in den Jugendjahren Homer, gefolgt von Herodot, Sopho-kles, Xenophon und Platon. Aus der antiken Literatur erwarb sich Winckelmann eine gründliche Kenntnis über Kunst, Kultur und Geschichte des Altertums, die für seine spätere wissenschaftliche Arbeit ein wichtiges Fundament bot. Winckelmann arbeitete in den fünf Seehausener Jahren bis zur physischen Erschöpfung. Sein Schulfreund Uden berichtet nach einem Besuch in Seehausen: Winckelmann „war aber den gantzen Winter hindurch mit keinem Fuße ins Bette gekommen, sondern saß in einem Lehnstuhl in einem Winkel vor einem Tisch; auf beyden Seiten stunden 2 Bücher Repositoria. Den Tag über brachte er mit der Information in der Schule zu, und nachher mit dem Unterricht seines Lamprechts. Um 10 Uhr ging dieser zu Bette und W. studirte für sich bis um 12 Uhr, da er seine Lampe auslöschte, und bis um 4 Uhr auf seinem Stuhle feste schlief. Um 4 Uhr wachte er wieder auf, zündete sein Licht an und studirte für sich bis um 6 Uhr; da sein Unterricht mit dem jungen Lamprecht wieder anging, bis zur Schule.“
Die Lichtblicke, die Winckelmann in seinen Studien fand, konnten jedoch nicht darüber hinweg trösten, daß ihm seine Tätigkeit im streng reglementierten preußischen Schuldienst keine Erfüllung brachte und das Leben in provinzieller Enge und kleinstädtischer Intoleranz zur Qual wurde. So trug er sich seit Sommer 1746 mit dem Gedanken, Seehausen zu verlassen. Als er dann das verlockende Angebot einer Bibliothekarsstelle bei Heinrich von Bünau erhielt, nahm Winckelmann kurzentschlossen am 17. August 1748 in Seehausen seinen Abschied.
Anfang September 1748 trat Winckelmann seinen Dienst beim Reichsgrafen Heinrich von Bünau auf Schloß Nöthnitz an. Das Schloß sollte für fast sechs Jahre Winckelmanns Heimat werden. Mit 42.139 Bänden besaß Bünau eine der größten deutschen Privatbiblio-theken des 18. Jahrhunderts. Als Bünau 1740 seine Bibliothek von Dresden nach Nöthnitz verlagerte, hatte er den Bibliothekar Johann Michael Francke (1717–1775) mit dem Umzug betraut und ihn beauftragt, nach seinen Vorstellungen ein Katalogsystem zu entwickeln. Winckelmann war beeindruckt von der Bibliothek: „Die Bibliothek ist ganz fürstlich. Es ist nicht ein einziger Saal von 40 Ellen, sondern noch einer darüber, doch nicht so hoch wie der untere. Die Bücher sind alle in Englischen Bänden, auch die kleinsten Stücke. […] Es sind die kostbarsten Werke ad hist. nat., die größten Beschreibungen der größten Cabinetter in der Welt. Die besten Poeten in allen Sprachen; die schönsten Editionen, ja alle nur mögliche von lat. u. gr. Scribenten; alle Journale die nur zu erdenken sind.“
Die vorrangige Aufgabe Winckelmanns in Nöthnitz war die Materialsammlung und -auswertung für das große Geschichtswerk Bünaus, die „Teutsche Kayser- und Reichshistorie“. 1728–1743 veröffentlichte Bünau in vier Bänden das Werk über die deutsche Geschichte von der Germanenzeit bis zum Jahre 918. Weitere Bände wurden nicht gedruckt. Durch diese Arbeit erwarb Winckelmann wichtige Erfahrungen im Umgang mit historischen Zeugnissen und Grundkenntnisse in der Quellenkritik. In diesem Kontext hat er sich auch intensiv mit der Zeitgeschichte und der Literatur der französischen und englischen Aufklärung beschäftigt. Von besonderem Interesse waren für ihn jedoch die antiquarischen Stichwerke, in denen die antike Kunst und Kultur vorgestellt und beschrieben wurde.
Winckelmanns großes Interesse an der Kunst regte ihn schon zu Beginn seiner Nöthnitzer Zeit zum Besuch der Dresdner Gemäldegalerie an. Die Gemäldegalerie umfaßte bereits 1754 etwa 1500 Bilder, vor allem italienische Werke des 17. Jahrhunderts. Im Jahre 1754 gelangte auch die berühmte Sixtinische Madonna nach Dresden, deren Beschreibung Winckelmann, beeindruckt von der Kunst Raffaels, ein Jahr später in seiner Erstlingsschrift, den „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst“, publizierte.
Unter August dem Starken (1670–1733) und seinem Sohn August III. (1696–1763) entwickelte sich Dresden zu einer der bedeutendsten Kunststädte nördlich der Alpen. Während seiner Tätigkeit als Bibliothekar lernte Winckelmann durch Bünau bedeutende Gelehrte und Künstler kennen, die damals in Dresden wirkten und auf Schloß Nöthnitz ein- und ausgingen. Dazu gehörte auch der seit 1739 in Dresden ansässige Maler Adam Friedrich Oeser (1717–1799), mit dem Winckelmann bald eine enge Freundschaft verband, die zeitlebens hielt. Oeser hatte an der Wiener Akademie studiert und war mit frühklassizistischen Tendenzen vertraut. 1764 wurde er zum Direktor neugegründeten Leipziger „Zeichnungs-, Mahlerey- und Architectur-Academie“ und unmittelbar darauf zum Hofmaler berufen.
Als Winckelmann im Oktober 1754 aus den Diensten Bünaus ausschied, übersiedelte er nach Dresden und lebte von Dezember 1754 bis zu seinem Weggang nach Rom im September 1755 bei seinem Freund Oeser. Über diese Zeit berichtet er: „Den Morgen studiere ich und zeichne bis 11 Uhr, da ich entweder auf die Königl. Bibliothec oder auf die Gallerie gehe. Von 12 bis halb 2 wird gegeßen, bis 2 wird eine Promenade über die Brücke nach Neustadt gemacht u.s.w. […] ich […] gehe auch selten vor 7 Uhr aus, und wenn geschiehet, zu dem Italiener Sala, wo ich etwa eine halbe Kanne rothen Wein trincke. Alle Tage zeichne ich wenigstens 2 Stunden.“ Oesers Einfluß auf Winckelmann ist nicht zu unterschätzen, bei ihm hatte er, wie später auch der junge Goethe, Zeichenunterricht genommen. Darüber hinaus schulte Oeser Winckelmann im künstlerischen Sehen, schärfte seinen Blick für die Form und unterwies ihn in der Kunsttheorie.
Schwer zugänglich aufgestellt war damals die Dresdner Antikensammlung. Erst 1754 gelang es Winckelmann, diese Sammlung zu sehen. Zunächst war sie im Hauptgebäude des Palais im Großen Garten aufgestellt, 1747 wurde sie provisorisch in den vier zum Palais gehörigen Pavillons untergebracht. Dort hat sie Winckelmann gesehen. Später wird er in seiner „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen“ (1763) ihre schlechte Aufstellung beklagen: „Der größte Schatz von Alterthümern befindet sich zu Dresden: […] Ich kann aber das Vorzüglichste von Schönheit nicht angeben, weil die besten Statuen in einem Schuppen von Bretern, wie die Heringe gepacket, standen, und zu sehen, aber nicht zu betrachten waren. Einige waren bequemer gestellet, und unter denselben sind drey bekleidete Weibliche Figuren, welche die ersten Herculanischen Entdeckungen sind.“ Diese drei weiblichen Gewandstatuen, die Anfang des 18. Jahrhunderts bei der Aushebung eines Brunnens in Resina (Herkulaneum) entdeckt wurden, gelangten 1736 in die Dresdner Sammlung.
Auf der Grundlage seiner Studien antiker Literatur, der archäologisch-antiquarischen Forschung, der Philologie, der französischen und englischen Aufklärung und nicht zuletzt auch der modernen Kunsttheorie entstand in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst Winckelmanns Erstlingsschrift, die „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“ (1755). Die Schrift erschien zunächst nur in knapp über 50 Exemplaren, „um [… sie] rar zu machen“, wie er selbst betont. Das Interesse und die Nachfrage machte schon im darauffolgenden Jahr 1756 eine zweite Auflage notwendig.
Von großer Bedeutung für die Wirkung dieser Schrift war zweifels-ohne Winckelmanns These von der Vorbildlichkeit griechischer Kunst. Er hatte den Künstlern seiner Zeit mit Nachdruck empfohlen, nach dem Vorbild der griechischen Kunst zu arbeiten. „Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen.“ Damit meinte er jedoch alles andere als eine sklavische Nachbildung. Diese epochemachende Erstlingsschrift, obgleich sie vorrangig an die Künstler gerichtet war, hat nicht nur der klassizistischen Kunsttheorie den Weg bereitet, sondern auch nachhaltig auf die deutsche Literatur und Lite-raturtheorie gewirkt.
Schon lange war es Winckelmanns sehnlichster Wunsch, in Rom, wohin es seit der Renaissance Künstler und Kunsttheoretiker zog, die Antike zu studieren. In Nöthnitz hatte Winckelmann den päpstlichen Nuntius, Graf Alberigo Archinto (1698–1758), kennengelernt und Verbindung zu dem Jesuitenpater Leo Rauch (1696–1775), dem Beichtvater des Königs, geknüpft. Archinto stand kurz vor seiner Abreise nach Rom, wo er zum Governatore di Roma berufen werden sollte, und war daran interessiert, einen Protestanten zum Glaubenswechsel zu bewegen. Seit 1751 schlug sich Winckelmann mit dieser Entscheidung herum, seine Gesundheit litt in dieser Zeit merklich. Zudem war er überzeugt, daß Freunde und Bekannte, darunter Pfarrer und Leute im Schuldienst, in seiner streng protestantisch geprägten Heimat für den Konfessionswechsel kaum Verständnis haben würden. Erst unmittelbar vor Archintos Abreise nach Rom im Sommer 1754 konvertierte Winckelmann schließlich in aller Abgeschiedenheit. Archintos Wunsch war es, daß Winckelmann ihm nun möglichst bald nach Rom folgen solle. Doch verzögerte sich der Abreisetermin mehrfach noch bis September 1755.
Am 18. November 1755 traf Winckelmann nach achtwöchiger Reise an der Porta del Popolo in Rom ein.
Winckelmanns Aufenthalt war zunächst für zwei Jahre geplant und mit einem Stipendium des sächsischen Königs, das Pater Leo Rauch erwirkt hatte, finanziell gesichert.
Mittels einer Empfehlung des Dresdner Malers Christian Wilhelm Ernst Dietrich (1712–1774) an Anton Raphael Mengs, der 1752 als sächsicher Hofmaler nach Rom gegangen war, fand Winckelmann eine Wohnung im Palazzo Zuccari. Der Palazzo war eines der großen Künstlerhäuser im Fremdenviertel auf dem Monte Pincio. Vor allem die Freundschaft mit Mengs, der seinerzeit in Rom als der hervorragendste frühklassizistische Maler galt, war in Winckelmanns ersten römischen Jahren von entscheidender Bedeutung. Von ihm erhielt er nicht nur wichtige Impulse für seine Kunstanschauung und Kunsttheorie, sondern auch vielfältige und interessante Anregungen, aus der Sicht des Künstlers die Meisterwerke der Antike zu betrachten. Zudem teilten beide die Vorliebe für die griechische Kunst.
Schnell gewann Winckelmann auch zu anderen in Rom lebenden Künstlern Kontakt. 1763 traf Winckelmann auf die junge deutsche Künstlerin Angelica Kauffmann (1741–1807). Im Auftrage von Johann Kaspar Füßli (1706–1782), einem Schweizer Maler und späteren Freund Winckelmanns, schuf sie im Jahre 1764 ein Porträt Winckelmanns.
Rom mit seinen großen Palästen, Villen, Kunstsammlungen und einzigartigen Architekturdenkmälern, vor allem der Antike und der Renaissance, machte auf Winckelmann einen überwältigenden Eindruck. Winckelmann studierte u.a. die Antiken- und Kunstsammlungen in der Villa Medici, der Villa Borghese, der Villa Ludovisi, der Villa Mattei, der Villa Negroni und der Villa Giustiniani und unternahm Exkursionen in die Umgebung Roms z.B. nach Tivoli zur Villa Hadriana.
Über den Prälaten Michelangelo Giacomelli (1695–1774) fand Winckelmann erste Kontakte zur römischen Gelehrtenwelt. Beide verband die Verehrung der griechischen Literatur. Als 1756 der Siebenjährige Krieg ausbrach, in dessen Folge Dresden durch Preußen besetzt wurde, befürchtete Winckelmann, daß das Stipendium ausbleiben würde. Eingedenk der möglichen Folgen des Krieges ließ Winckelmann durch Giacomelli Archinto seine Dienste als Bibliothekar antragen. Archinto war gerade erster Minister und Kardinalstaatssekretär geworden und auf den Quirinal umgezogen. Er bot Winckelmann eine bequeme Fünfzimmerwohnung in seinem Palazzo Cancelleria an. Aufgrund seines Amtes bei Archinto erhielt Winckelmann zunehmend Verbindungen zu römischen Gelehrtenkreisen. Häufig besuchte er auch die Bibliotheken, insbesondere die des Collegio Romano, das für antiquarische Studien reichlich Material bot.
Lange hatte Winckelmann einen Besuch bei Baron Philipp von Stosch in Florenz geplant, nicht zuletzt, um dessen berühmte Gemmensammlung zu sehen. Als Stosch 1757 starb, hatte er testamentarisch Winckelmann darum gebeten, seine Sammlung zu publizieren. Auf Einladung seines Neffen, Heinrich Wilhelm Muzell-Stosch, weilte Winckelmann von September bis April 1759 in Florenz. Vom Erben Muzell-Stosch war das Werk zugleich auch als ein Verkaufskatalog gedacht, deshalb wohl die Bitte an Winckelmann, ihn in französischer Sprache abzufassen. Mit seinen Beschreibungen, seinen an einigen ausgewählten Beispielen vorgeführten Betrachtungen zur stilistischen Einordnung der Gemmen und den Interpretationen ihrer Darstellungen aus der griechischen Mythologie hatte Winckelmann jedoch für die Gemmenforschung neue Maßstäbe gesetzt.
Bald nach Archintos Tod hatte Winckelmann in Florenz über Giacomelli das Angebot des großen Altertumskenners Kardinal Alessandro Albanis (1692–1779) erreicht, als Bibliothekar in seine Dienste zu treten. So war seine Zukunft in Rom gesichert. Die Empfehlung Winckelmanns hatte einst Baron Philipp von Stosch dem Kardinal gegeben.
Als am 30. März 1763 der Präsident der Altertümer von Rom, Abbate Ridolfino Venuti (1705–1763), der dieses Amt seit 1744 innehatte, starb, wurde Winckelmann auf Vorschlag Kardinal Albanis dessen Nachfolger als päpstlicher Antiquarius. Schon am 11. April 1763 erhielt Winckelmann die Ernennungsurkunde zum Kommissar der Altertümer von Rom. In dieser Funktion gewann Winckelmann zunehmend Einfluß. Die Ausfuhr von Antiken bedurfte seiner Genehmigung. Fundorte mußten bei seinen beiden Assessoren, die ihm als Präfekten unterstanden, gemeldet werden. Ebenso gehörten Führungen hoher Gäste durch das antike Rom zu Winckelmanns Aufgaben.
Da das Präsidentenamt wenig einträglich war, bemühte sich Albani, es mit einer Stelle in der vatikanischen Bibliothek zu verbinden. 1763 wurde auf Gesuch Kardinal Albanis Winckelmann zum Scrittore teutonica (für die deutsche Sprache zuständigen Bibliotheksschreiber) ernannt. Ein Jahr darauf erhielt Winckelmann die Anwartschaft auf das griechische Scrittorat zuerkannt. In der vatikanischen Bibliothek hatte Winckelmann von November bis Juni eine feste Arbeitszeit, täglich von 9.00–12.00 Uhr außer donnerstags und sonntags.
Anfang 1764 erschien Winckelmanns Hauptwerk, die „Geschichte der Kunst des Alterthums“. Winckelmann hat hier die Entwicklung der Kunst anhand der Abfolge ihrer Stilperioden dargestellt und dies hauptsächlich am Beispiel der griechischen Kunst veranschaulicht. Das große Verdienst Winckelmanns ist es, daß er die formalen Charakteristika einer jeweiligen Stilepoche sehr treffend beschrieb. Damit schuf er nicht nur für die Klassische Archäologie ein wichtiges Instrumentarium, Kunstwerke anhand dieser Spezifika in die Kunstentwicklung einzuordnen. Voraussetzung dafür war die exakte Beschreibung der Werke. Besonders eindruckvoll sind seine einfühlsamen Beschreibungen der Laokoon-Gruppe und des Torso von Belvedere.
Zeit seines Lebens arbeitete Winckelmann an der Kunstgeschichte weiter. Schon 1767 veröffentlichte er „Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums“, die wiederum eine Vorstufe zu der überarbeiteten zweiten Auflage der Kunstgeschichte darstellten. Sie erschien allerdings erst nach Winckelmanns Tod 1776 in Wien.
Mit großem Interesse wie bereits die Kunstgeschichte wurde auch das andere große Werk Winckelmanns, die „Monumenti antichi inediti, spiegati ed illustrati“ [Unveröffentlichte antike Denkmäler, erklärt und abgebildet] aufgenommen. Winckelmann hat es mit finanzieller Unterstützung Kardinal Albanis und anderer Freunde selbst zum Druck vorbereitet und auf eigene Kosten verlegt.
Winckelmann stellte in den „Monumenti antichi inediti“ nicht nur bisher unbekannte oder unveröffentlichte Denkmäler mit Reproduktionen und detaillierten Beschreibungen vor, sondern deutete und interpretierte zugleich die Darstellungen aus ihrem meist mythologischen Zusammenhang. Damit wies er der archäologischen Hermeneutik neue Wege. Anläßlich eines Besuchs des Papstes Clemens XIII. auf Castel Gandolfo 1763 wurde Winckelmann gebeten, dem Papst aus seinem Werk vorzutragen. Winckelmann befand sich auf der Höhe seines Ruhms. Er war Mitglied namhafter Akademien wie der Accademia di Cortona, der Accademia di San Luca in Rom, der Society of Antiquaries in London und der Göttinger Akademie.
Lange schon wollte Winckelmann eine Reise nach Deutschland unternehmen, um seine Freunde zu besuchen. Mit einigen verband ihn eine enge Korrespondenz, seitdem er seine Heimat verlassen hatte, mit anderen war er während ihres Aufenthaltes in Rom bekannt geworden. Zudem erhielt er in den letzten Jahren immer häufiger offizielle Einladungen von Institutionen und hochgestellten Persönlichkeiten.
Die Reise sollte über Bologna, Venedig, Verona, nach Augsburg, München, Wien, Prag, Leipzig, Dessau, Berlin bis nach Hannover und Göttingen führen. In Leipzig wollte er bei seinem Freund Adam Friedrich Oeser Station machen, bei dem der junge Goethe – ein begeisterter Verehrer Winckelmanns – studierte, in Dessau erwartete ihn Leopold Friedrich Franz Fürst von Anhalt-Dessau, in Berlin sein guter Freund Muzell-Stosch und in Göttingen Christian Gottlob Heyne, der die Archäologie als Wissenschaftsdisziplin an den deutschen Universitäten begründete. Im Herbst wollte Winckelmann in der Schweiz sein und von dort aus nach Italien zurückkehren. Er reiste am Morgen des 10. April 1768 aus Rom ab. Begleitet wurde er von dem Bildhauer Bartolomeo Cavaceppi (1716–1799), der zahlreiche Antiken der Sammlung des Kardinals Albani ergänzt hat.
Als die beiden die Tiroler Alpen durchquerten, erkrankte Winckelmann. Sein seelischer Zustand verschlechterte sich während der beschwerlichen Reise in der Postkutsche zunehmend, die hohen Berge schienen ihm erdrückend, und er hatte nur noch einen Wunsch: zurück nach Rom. Dem Freunde zuliebe ließ er sich mühsam bis Regensburg mitschleppen. Doch dann beschloß er, endgültig umzukehren. In Begleitung von Cavaceppi reiste Winckelmann noch bis Wien, wo er von der österreichischen Kaiserin Maria Theresia empfangen wurde. Nach einem Fieberanfall reiste Winckelmann nach Triest, wo er sobald wie möglich ein Schiff nach Ancona nehmen und von dort auf dem Landweg nach Rom reisen wollte. Als sich die Abfahrt des Schiffes mehrere Tage verzögerte, wurde Winckelmann am 8. Juni 1768 das Opfer eines grausamen Mordes. Der Täter, Francesco Arcangeli, ein wegen Diebstahls vorbestrafter Koch, wurde bald nach der Tat gefaßt und am 20. Juli 1768 hingerichtet.
Winckelmanns grausamer Tod erschütterte viele. „Winckelmann genoß einer solchen allgemeinen, unangetasteten Verehrung […] Nun vernahmen wir jungen Leute mit Jubel, daß Winckelmann aus Italien zurückkehren, seinen fürstlichen Freund besuchen, unterwegs bey Oesern eintreten und also auch in unsern Gesichtskreis kommen würde. […] und wie ein Donnerschlag bey klarem Himmel fiel die Nachricht von Winckelmanns Tode zwischen uns nieder.“ berichtet Goethe in seinen Lebenserinnerungen.
Johann Joachim Winckelmanns neue Sicht der Antike und seine humanistischen Ideale beeinflußten nachhaltig die Literatur der deutschen Klassik. Hier wirkte er vor allem auf Lessing, Herder und Goethe. Für die Kunst des europäischen Klassizismus war Winckelmann einer der großen Wegbereiter. Sein von Sehnsucht und Liebe zur Freiheit geprägtes Bild der Antike bewirkte, weit über die Beschäftigung mit dem Altertum hinaus, die antike Kunst und Kultur zu einem lebendigen und schließlich zum persönlichen Erlebnis zu machen. Winckelmanns wissenschaftliches Werk hat die Klassische Archäologie als moderne Wissenschaft in ihren Grundlagen geprägt und die Entwicklung der archäologischen Forschung und Methodik für lange Zeit bestimmt.